Die Alp

48 Kühe, 5 Hühner, ein Hund, Tausende von Fliegen, das Wetter und die Arbeit bestimmen das Leben der Familie Nesa-Mathis auf der Alp Gün im Safiental (Graubünden). Die Kinder haben keine Handys oder Gameboys auf der Alp. Sie vermissen diese Spielzeuge nicht. Auch vermissen sie den Fernseher und das Radio nicht. Sie verrichten Arbeiten, spielen, begegnen Tieren und Naturgefahren, streiten, singen, holzen, essen und schlafen. Als Filmautorin bin ich immer wieder auf der Suche des Grossen im Kleinen. Dies im Alltäglichen zu suchen, zu filmen und sichtbar zu machen, begeistert mich.

Die Alltagsarbeiten der Eltern bestimmen den Tagesablauf auf der Alp. Aufstehen, Käsen, Kühe von der Weide holen, Melken, Melkgeräte reinigen, Stall reinigen, Kinder einbeziehen, Kühe auf die Weide bringen, Kühe beobachten, ob sie alle gesund sind,kranke Tiere pflegen oder dem Bauern und Veterinär melden, zu den Kindern schauen, buttern, kochen, essen, schlafen, Kühe von der Weide holen, melken, Hühner und Schweine füttern, Zäune reparieren, Käse pflegen, kochen, essen, aufräumen, Kinder zu Bett bringen, Gutenachtlied singen, den Wecker stellen und schlafen.

Anna sagt, entweder man gehe einmal und nie wieder z’Alp oder man kommt vom Alpen nicht mehr los. Hier oben fühle sie sich frei, laut zu fluchen und ebenso laut zu singen. Die Kinder seien anders auf der Alp. Hier seien sie frei, keine „das darfst du nicht-Sätze“. Sie hätten andere Augen, ein anderes Lachen und andere Tränen.Die Alp aus der Kinderperspektive miterleben zu können ist ein sehr direkter Zugang zu diesem Alperlebnis, auch für Menschen, die nie diese Gelegenheit haben werden.

Bei den Aufnahmen habe ich die Kamera auf Augenhöhe der Kinder. Schon dieser Blickwinkel auf die Welt ist ein Erlebnis. Eine Kuh kann da auch zum Monster werden. Umso grösser wird die Bewunderung für die Kinder. Sie müssen ihre Ängste überwinden und dennoch die Gefahren gut abschätzen. Ihre Art, wie sie mit den Kühen und mit den eigenen Ängsten umgehen, ist überraschend und erstaunlich.

So schön es auf der Alp bei Sonnenschein auch sein mag, wenn es im Team nicht harmoniert, kann die Traumalp zum Albtraum werden. So soll der Dokumentarfilm nicht nur die paradiesische Seite des einfachen Lebens aufzeigen, sondern auch die Herausforderungen, die sich daraus ergeben können. Wenn man am Rande der Kräfte mit zwischenmenschlichen Spannungen konfrontiert wird, wenn das Wetter umschlägt, ein Unfall mit den Tieren passiert, oder gar der Käse blähen würde, dann gibt es Stress. Das Leben auf der Alp fasziniert und lässt erschaudern. „z’Alp goh“ sei wie eine Droge, sagt Anna und lacht.

Alp Gün im Safiental (Graubünden)
Susanna Fanzun

Interview mit Regiesseurin Susanna Fanzun


Frau Fanzun, wie kamen Sie dazu einen Film über Kinder zu machen, die den Sommer mit ihren Eltern auf einer Kuhalp im Safiental verbringen?

Durch meine persönlichen Erfahrungen als Mutter und früher auch als Pädagogin interessiert mich die Perspektive der Kinder auf die Welt. Die Welt mit Kinderaugen zu sehen, ist spannend. Dies erfahrbar zu machen war für mich als Filmemacherin eine spannende Herausforderung. Ich hatte bereits andere Projekte mit Kindern realisiert. An einem Filmfestival in Deutschland habe ich einen schönen Dokumentarfilm über einen Buben und seine Mutter gesehen. Danach stand meine Entscheidung fest, ein Filmprojekt ganz aus der Kinderperspektive zu machen. Was heute mit vielen Kindern durch Medienkonsum geschieht, ist ein weitere Aspekt der mich interessiert. Die ganze Thematik rund um Medienkonsum und Kinder beschäftigt mich. Indem ich das Leben dieser 3 Kinder zeige, spreche ich mit einem positiven Beispiel einen wichtigen gesellschaftlichen Diskurs an.

In den letzten Jahren gab es Filme über das Alpwesen.
Was macht diesen Film besonders?

Mein Fokus ist auf die Kinder gerichtet, wie diese auf der Alp leben und welche Erfahrungen sie dort machen können, die wertvoll für ihre Entwicklung sind. Die Alp ist dafür ein wunderbarer Schauplatz. Für mich steht nicht die Alp und wie sie funktioniert im Vordergrund. Im Film wird spürbar, was diese Erfahrungen auf der Alp für die Kinder bedeutet, auch für später.

Sie sind im Unterengadin aufgewachsen und leben heute wieder dort. Welche Erfahrungen konnten Sie in ihrer Kindheit mit Tieren machen?

Ich bin mit Stallgeruch aufgewachsen. In meiner frühen Kindheit hatten meine Eltern einen kleinen Bauernhof. Im historischen Engadinerhaus sind Stall und Heustadel Teil des Hauses. Wir hatten Kühe, Kälber, zeitweise einen Stier, Schweine, Hühner, Meerschweinchen und Katzen. Zudem war mein Vater Jäger und Fischer. Das bereicherte nicht nur den Menüplan, es gab uns Kindern auch einen Einblick in die verschiedenen Tierwelten.

Haben Sie Erfahrungen mit dem Alpleben?

Als Journalistin habe ich Sennen und Hirten auf der Alp besucht. Als Kind gingen wir mit der Schule einmal auf die Alp und konnten beim Käsen zusehen. Als Bauernkinder war der Alpaufzug für uns ein ganz besonderer Tag. Wir begleiteten die Kühe zur Alp Laisch und bei jedem Bauernhaus kamen neue Kühe, Kinder, Frauen und Männer dazu. Abends kam dann die ganze Schar Menschen ohne die Kühe zurück ins Dorf. Eine unserer Kühe mochte meine Mutter besonders gerne. Die Kuh stand fast jedes Jahr nach zwei Tagen wieder vor unserem Stall. Mutter machte sich dann am nächsten Tag alleine mit der Kuh auf, und brachte sie zurück auf die Alp.

Wie sind Sie auf diese Familie gestossen?

Die Familie lebt im gleichen Dorf wie ich, in Scuol. Mir sind die Kinder aufgefallen, ihre ausserordentliche Art zu beobachten, Dinge in die Hand zu nehmen und gemeinsam zu spielen. Auch wie die Eltern, beide Forstingenieure, mit den Kindern umgehen, finde ich beispielhaft.

Wieviel Zeit haben Sie für den Film auf der Alp verbracht?

Die Alpzeit dauert von Juni bis Mitte September. Ich wollte verschiedene Stimmungen im Film aufnehmen. Das Wetter ist ein einfaches Beispiel. Es kann im Film nicht immer schön sein. Wir haben zum Beispiel lange auf den Schnee gewartet. Als es dann endlich geschneit hat, ist nach kurzer Zeit die Kamera ausgestiegen. Das war schrecklich für mich. Von einer früheren Erfahrung wusste ich, dass die Kamera weiter aufzeichnet, ich aber kein Bild sehe. So habe ich die Schneesequenzen „blind gefilmt“. Die Spannung löste sich erst, als ich das Bildmaterial am Schnittplatz sichten konnte. Obwohl ich einen recht klaren Plan hatte, was mein Aussagewunsch ist, kann man gewünschte Situationen nicht herbeizwingen. Als Dokumentarfilmerin bedeutet das dann vor allem auch Warten, bis Situationen natürlich eintreffen. Dann muss ich achtsam sein, dass ich diese Momente nicht vermassle. Es bedeutet aber auch offen zu sein für das, was passiert. Denn die schönsten Momente sind jene, die nicht vorauszusehen sind.

Die Alpzeit dauert gute drei Monate. Können die Kinder einfach in der Schule fehlen?

Die Eltern müssen beim Kanton eine Sonderbewilligung beantragen, damit ihre Kinder während der ganzen Alpzeit mit der Familie auf der Alp sein können. Dort gibt es während der Schulzeit Aufgaben für die Primarschülerin Braida. Marchet konnte mit dem 3-jährigen Jon spielen, interessierte sich aber auch für die Schulstunden der Schwester. Die Kinder wissen, dass sie dort oben Vieles lernen, was man gar nicht in der Schule lernen kann.

Was hat Sie an den Kindern auf der Alp besonders beeindruckt?

Jedes Kind ist in einer besonderen Entwicklungsphase und das macht dieses Trio so spannend und grossartig. Jon (3), Marchet (6) und Braida (8) sind sehr selbständige Kinder, übernehmen viel Verantwortung für ihr Handeln und man bewundert sie für ihr Wissen im Umgang mit Tieren und Gefahren. Mir gefällt vor allem, wie sie mit Langeweile umgehen. Braida vermisst allerdings ihre Freundinnen. Sie schreibt ihrer Klasse schöne Briefe. Es kommt auch vor, dass die Brüder sie nerven. Dann zieht sich das Mädchen zurück und liest. Jedes Kind hat eigene Strategien entwickelt, wie es mit Langweile umgeht. Auf der Alp haben die Kinder keine Handys oder elektronische Spielgeräte. Es geht mir nicht darum, die Alpwelt zu idealisieren oder die elektronischen Medien zu verteufeln. In den Bergen kann es sehr langweilig sein. Da oben ist man fast noch anfälliger, elektronische Medien intensiv zu konsumieren. Bei dieser Familie stehen jedoch andere Erfahrungen im Vordergrund. Früher war das normal, heute würde ich sagen, ist es eher die Ausnahme.

Wie sind Sie im Safiental aufgenommen worden?

Heute weiss ich, dass man das Auto immer tanken sollte, bevor man ins Safiental fährt.... Es kam tatsächlich vor, dass wir zu wenig Benzin im Tank hatten und da hat uns ein Bauer in Gün mit seinem Benzinvorrat aus der misslichen Lage gerettet.

Die Bauern und Bäuerinnen wussten, dass wir auf der Alp filmten. Wir fühlten uns sehr frei zu arbeiten und wurden auch sehr freundlich von den Frauen und Männern des Safientals unterstützt. Einmal als unser Auto unterhalb einer Baustelle und wegen eines Unwetters blockiert war, brachte uns ein Bauer mit der ganzen Ausrüstung zur Alp hoch.

Ein schönes Erlebnis war auch der Viehmarkt. Ein wunderschöner Marktplatz mitten im Wald im Safiental. Solche Viehmärkte gibt es nicht mehr viele. Im Film sieht man, wie die Familie gegen Ende der Alpsaison einen Ausflug ins Tal zum Viehmarkt macht. Ich werde sicher auch ohne Kamera wieder ins Safiental gehen.